Im Zuge der menschlichen Entwicklung zum Sprachwesen... hat sich der Weg, den unsere individuelle Lebensgeschichte einschlägt, vom Weg der Gattungsgeschichte getrennt. Nicht eine, sondern zwei Erzählungen verlaufen mitten durch den Körper und durch das Bewusstsein des Menschen. Daher kann der Mensch sich nicht vollständig verwirklichen, ohne dass er gleichzeitig versuchen würde, diese Spaltung zu überwinden. Jeder von uns muss in seinem Leben die Art und Weise ausfindig machen, wie er die beiden scheinbar voneinander unabhängigen Erzählungen wieder zusammenführen kann, in die unser Leben uns geworfen hat. Es geht darum, dass wir beiden Erzählungen zuhören und sie zu einer sinngebenden Erzählung vereinigen können. Einer Erzählung, die uns versichert, dass wir sowohl der menschlichen Gemeinschaft angehören als auch der Welt der Lebewesen, die unser Ursprung ist …
Signs of meaning in the universe / Jesper Hoffmeyer
In der Evolution, im Zuge der menschlichen Entwicklung zum Sprachwesen, spaltete sich unsere Gattungsgeschichte in Naturgeschichte und Kulturgeschichte auf. Beide haben sich immer mehr von einander entfernt. Die Kultur befreite sich von der Herrschaft der Natur. Allmählich stellte sich das Verhältnis von Herr und Knecht auf den Kopf. Die Machtübernahme ist endgültig besiegelt, seit mit der Gentechnologie die Möglichkeit verfügbar geworden ist, Natur in ihren innersten Strukturen in Kultur zu verwandeln.
Irgendwo im Raum zwischen den beiden Linien "Kultur" und "Natur" liegt der Schlüssel zur Klärung der Frage, wer und was wir heute sind. Hier liegt ebenfalls der Schlüssel zur Deutung vieler Mythen und Träume. Wir können sie als konkrete, anschauliche Manifestationen unaussprechlicher oder unterdrückter Aspekte des Menschseins erkennen. Zusammengenommen machen sie den Menschen aus, aber wir sind nicht imstande, sie unmittelbar in ihre Bestandteile aufgelöst zu betrachten.
De Profundis kann als Sediment verstanden werden, das sich im Raum zwischen "Kultur" und "Natur" abgelagert hat: Sinnbilder, die empor geholt wurden aus der Tiefe des Menschen im doppelten Sinne, mit all ihren Ecken, Kanten und Grenzen. Die neun selbstständigen Skulpturen und Skulpturgruppen sind als Einheit konzipiert, als Aspekte jener Ganzheit - als Zyklus. Dieser erzählt dementsprechend nicht von einer Vielzahl unterschiedlicher Existenzen, sondern von der einen Existenz.
Der Titel De Profundis ist eng mit dem religiösen Ruf der Ohnmacht verbunden. Wir verdanken ihm unendlich viel schöne, zutiefst ergreifende Musik. "Aus der Tiefe rufe ich zu dir, oh Herr", heißt es im 130. Psalm Davids. Dieses ausdrucksstarke Bild existenzieller Machtlosigkeit hat auch diesem Skulpturenzyklus als Inspiration gedient. Dem Bild aus dem religiösen und musikalischen Zusammenhang habe ich das Motiv der Tiefe entlehnt, die hier nun freilich aus einem anderen Gesichtspunkt erlebt wird. Der Weg des Individuums, das sich zur Art entwickelt, von seinem Entstehen über seine Entwicklung bis hin zu seiner Auslöschung, mündet in meinem Zyklus in eine Huldigung. Sie ist dem Leben gewidmet: einem chaotischen, ekstatischen Reigen, dessen Elemente sich in einem einzigen Mahlstrom miteinander ausbalancieren. Es sind Inseln von Gefühls- und Gedankengut; Inseln in einem Mikro-Universum, das entstanden ist aus Momenten der Faszination durch Biologie und Evolutionstheorie über vergleichende Verhaltensforschung bis hin zu Aspekten der Gentechnologie - entstanden aus meiner immerfort steigenden Verwunderung über das Phänomen der Existenz.
Die Themen, die ich zu berühren versuche, sind Macht und Ohnmacht, der neue Mensch und der aussterbende Mensch, das Spiel von Allem mit Allem sowie die Kraft des Gedankens und der Phantasie, sich das Unmögliche vorzustellen und es zu materialisieren.
In der figurativen Abstraktion suche ich nach der Fülle des Intervalls, nach dem Raum, der sich auftut zwischen der Andeutung und der spontanen Vollendung beim Betrachten.Ebenso verwende ich das Figurative als Medium der abstrakten Komposition. Das gilt sowohl innerhalb der einzelnen Gruppen in Linien und Energiefeldern, als auch im Sinne einer übergeordneten Dynamik, die durch den gesamten Zyklus hindurch läuft: einer Bewegung zwischen unterschiedlichen Manifestationen dreier Energiezustände, nämlich dem statischen, dem potenziellen und dem kinetischen.
Die rohe Erscheinung der Skulpturen ist dem Missverhältnis zuzuschreiben, das zwischen monumentalem Ausdruck und dem begrenzten Vermögen der Mittel besteht. Die Skulpturen stehen da in dem Material, aus dem sie erschaffen sind. Aber vielleicht ist es gerade diese Verletzlichkeit, die eine stärkere Intimität zu vermitteln vermag.
Gudrun Steen-Andersen
Übersetzung: Sabine S. Bech-Hansen